März-Gedanken: Trotz alledem

Von Gerwin Udke

Es ist ein guter Brauch: Im Januar versammeln sich in Berlin-Friedrichsfelde auf dem Friedhof der Sozialisten alljährlich Tausende zum ehrenden Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dort in Friedrichsfelde fanden ja auch viele andere bedeutende Arbeiterführer, Kommunisten und Sozialisten, ihre letzte Ruhestätte. 

An einer anderen wichtigen revolutionären Gedenkstätte eilen viele tausend Berliner alltäglich achtlos vorbei. Nur wenige, meist ältere Semester, wissen überhaupt, dass es ihn gibt: den „Friedhof für die Gefallenen der Märzrevolution“ im Volkspark Friedrichshain an der Landsberger Allee. Hier sind 255 Opfer der Berliner Märzrevolution von 1848 beerdigt. Und hier sind auch die sterblichen Überreste von 33 Kämpfern der Novemberrevolution 1918 beigesetzt.

Der 165. Jahrestag des 18. März 1848 ist guter Anlass, sich an die Kämpfe von 1848 und 1918 und an die, die in diesen Auseinandersetzungen ihr Leben geopfert haben, zu erinnern. Die gefallenen Barrikadenkämpfer von 1848 und die Toten der Novemberrevolution – das waren wichtige Wegbereiter im Ringen um Freiheit, Demokratie und Sozialismus auf deutschem Boden.

Ihrer ehrend zu gedenken ist besonders angebracht, nachdem der erste, immerhin mehrere Jahrzehnte währende reale Sozialismus auf deutschem Boden 1989/1990 erst einmal gescheitert ist, eine vernichtende historische Niederlage erlitten hat.

„Trotz alledem …“  das gilt mit Bezug auf die Lehren der Revolution – einschließlich der Lehren aus erlittenen Niederlagen – und die Erkenntnisse von Karl Marx (dessen Todestag sich am 14. März dieses Jahres zum 130.mal jährt), von Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auch heute.

So mancher, den man heutzutage zum Beispiel nach Rosa Luxemburg fragt, verweist nach kurzem Bedenken auf den wichtigen Satz, dass „Freiheit … immer die Freiheit der Andersdenkenden“ ist. Das trifft auch auf ganz viele der Jüngeren zu, die im Januar nach Friedrichsfelde ziehen, weil sie gegen aktuelle Entwicklungen protestieren wollen. So mancher von denen, die zur Gedenkstätte für Karl und Rosa demonstrieren, haben aber  nur ausschnittweise Kenntnis von dem, was Marx und eben auch Luxemburg uns Heutigen tatsächlich zu vermitteln haben.

Lehrbuch und Wegweiser

Tageskampf und Endziel, „Sozialreform oder Revolution?“,  „Gesetzlichkeit oder Gewalt?“, Anarchismus oder Reformismus?“, „Parlamentarismus und/oder revolutionäre Massenaktion“, Wahlen oder Streik/Generalstreik?“ – zu all diesen brennenden Problemen auch der heutigen Auseinandersetzungen findet sich in den Schriften von R. L. von vor 100 Jahren ganz viel Lesens- und Bedenkenswertes.

Rosa Luxemburg hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die einfachen Leute, die Massen aufzuklären, ihnen die Zusammenhänge und Hintergründe der sich vollziehenden Abläufe vor Augen zu führen. Zum Beispiel: Was Marx und Engels über die Ziele revolutionärer Aktionen und Einzelkämpfe gelehrt haben. Wie in der jeweiligen Situation in welchen Schritten und Etappen vorzugehen ist. Und vor allem: Was aus erlittenen Niederlagen zu lernen ist, usw.

Zum 18. März 1912 mahnte R. L., dass die Proletarier im Wust der Tagespolitik nicht „den Maßstab für große und kleine Dinge verlieren“ dürfen. „Die Arbeiterklasse hat … allen Anlaß, ihren geschichtlichen Erinnerungstagen immer wieder ernste Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sind doch für uns das große Lehrbuch, das uns Wegweiser für den weiteren Vormarsch gibt, aus dem wir lernen, alte Fehler zu vermeiden und neue Illusionen zu zerstören. Denn nur durch beständige Selbstkritik, durch das Besinnen auf sich selbst vermag die proletarische Masse ihren großen Klassenkampf und ihre großen Ziele zum Siege führen.“

Sie verwies diesbezüglich ausdrücklich auf die Erkenntnis von Karl Marx, wodurch sich proletarische Revolutionen von vorhergehenden Revolutionen unterscheiden: Sie „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend … , kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, … , bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodos, hic Salta! ...“

R. L. führt dann weiter aus: „Der 18. März ruft zwei historische Ereignisse in Erinnerung, die … wie zwei lodernde Fackeln die Strecke des letzten halben Jahrhunderts beleuchten: Die Revolution von 1848 und die Pariser Kommune von 1871.“

Der Heldenmut der Barrikadenkämpfer 1848 hatte „die Bahn gebrochen für eine fortschrittliche demokratische Entwicklung Deutschlands, für die deutsche Einheit, … Was ist von alledem zur Wirklichkeit geworden? Nichts.“ Es folgten „die Konterrevolution und die bleierne Kirchhofsruhe der fünfziger Jahre … und dann in den siebziger Jahren die Karikatur der deutschen Einheit in Gestalt der neuen deutschen Reichsherrlichkeit … , das waren die Ergebnisse niederträchtigen Verrats der liberalen Bourgeoisie“.

R. L. geißelte die Machenschaften der „liberalen Bourgeoisie“ von damals, die den Kampf der Revolutionäre auf den Barrikaden „für einen Judaslohn“ an die Reaktion verkauft hat. Und als Lehre für die Revolutionäre aus den historischen Abläufen 1848 bis zur deutschen Reichseinheit 1871 mahnte sie: „Ehe der deutsche Liberalismus von den Toten aufersteht, um die Welt mit dem Waffengeklirr seiner Ruhmestaten zu erfüllen, würden die Märzgefallenen auf dem Friedrichshain in Berlin aus ihren Grüften steigen, um uns das schlimmste Wort ins Gesicht zu schleudern: Ihr habt nichts gelernt und nichts vergessen!“

Prüfung des Geleisteten

Für R. L. waren Jubiläen und Erinnerungstage nicht etwa Anlässe, „in Selbstzufriedenheit das Vergangene zu preisen“. In der Leipziger Volkszeitung vom 23. Mai 1913 schrieb sie: „Für eine revolutionäre Klasse wie das moderne Proletariat, die das Größte noch vor sich hat, sind geschichtliche Erinnerungstage nicht eine Gelegenheit, mit einem Blick auf die eigene Vergangenheit triumphierend zu konstatieren, `wie herrlich weit wir`s schon gebracht` haben, sondern vor allem ein Anlaß zur Selbstkritik, zur Prüfung des Geleisteten und Verständigung über das zu Leistende.“

Zuweilen kann – 100 Jahre später – der Eindruck entstehen, dass einige derjenigen, die heutzutage über Zurückliegendes zum Beispiel aus DDR-Zeiten reden bzw. schreiben, unter anderem auch diese Erkenntnis von R. L. einfach ausblenden. Es reicht nicht, es führt ja eben kaum weiter voran, heute einfach seinerzeit mit großen Anstrengungen Erreichtes zu verherrlichen. Viele der damals in 40 Jahren Realsozialismus für die Bevölkerung erkämpften sozialen Errungenschaften konnten 1989/1990 nicht bewahrt werden. Sie sind untergegangen, sind unter anderem auch durch seinerzeit verantwortliche Akteure verspielt worden. Darüber vor allem ist doch bei der „Prüfung des Geleisteten und Verständigung über das zu Leistende“ (R. L.) Rechenschaft abzulegen und weiter nachzudenken.

Aus erlittenen Niederlagen, und so eben auch aus dem historischen Scheitern der Anstrengungen, nach 1945 auch auf deutschem Boden eine realsozialistische Gesellschaft zu errichten, muss zu allererst gelernt werden, was falsch gelaufen ist. Und diese Aufgabe, die „Prüfung des Geleisteten und Verständigung über das zu Leistende“ –  das ist, so R. L., Aufgabe der Sozialisten selbst. Dieses Feld darf auf gar keinen Fall dem (jeweiligen) Gegner überlassen werden.

Liebknecht und Luxemburg haben in ihrer Zeit und für ihre Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts Aufgaben und erforderliche Schritte im revolutionären Prozess nach dem Eintritt der Kapitalordnung in die Epoche des Imperialismus abgesteckt. Mehr als siebzig Jahre später, nach dem (erst einmal) historischen Scheitern des Realsozialismus 1989/1990, des Versuchs, der Anstrengungen, auch auf deutschem Boden Sozialismus zu verwirklichen, stehen wiederum viele Fragen neu.

Das über Jahrzehnte real existierende Gegengewicht zu den Bestrebungen des Monopolkapitals, die ganze Welt auszubeuten und zu beherrschen, die realsozialistische Ordnung in der Sowjetunion, in der DDR usw., ist erst einmal untergegangen, weggefallen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten herrscht die imperialistische Kapitalordnung wieder weltweit und in mancherlei Hinsicht brutaler als je zuvor. Das löst heute verständlicher Weise bei den davon Betroffenen Wut und Empörung aus. Andere sind enttäuscht darüber, dass „nicht mehr protestiert wird“.

Chancen nicht genutzt

Das Problem besteht dabei aber eben gerade darin: Die 1989/1990 Agierenden in den sog. „Wende“-Zeiten auf dem Weg zur deutschen Einheit haben seinerzeit real bestehende Chancen, der Kapitalordnung weitergehende Zugeständnisse im Interesse des Volkes und der Völker der Welt abzutrotzen, nicht nutzen können. Sie haben ohnmächtig hinnehmen müssen, dass damals große Teile der vordem mühselig erkämpften realsozialistischen Errungenschaften einfach untergegangen sind. Dass die sozialistische Solidarität mit den Völkern der dritten Welt weggefallen ist.

Erinnerung an die Barrikadenkämpfer von 1848, an die Novemberkämpfer von 1918/19, an das Schicksal von Liebknecht und Luxemburg und eben auch an die 1989/1990 erlittenen Niederlagen lehrt unerbittlich, möglichst richtige Schlussfolgerungen aus den ausgetragenen Kämpfen zu ziehen. Klarheit über die angestrebten Ziele vorausgesetzt ist nun mal entscheidend, ob und wie es jeweils gelingt, handlungsfähige Bündnispartner zu deren Realisierung zu gewinnen.

Diese Verbündeten, die unerlässlich erforderlichen Bündnispartner für tatsächlich erfolgversprechende neue Ansätze im Streben nach einer gerechteren Ordnung unter den erheblich komplizierter gewordenen Konditionen können nur gewonnen werden, wenn sich sozialistische Aufklärung nicht auf Halbwahrheiten begrenzt. Das gilt heute auch für einfach nur einseitig beschönigende Erinnerung an DDR-Zeiten, die allein nicht geeignet ist, Verlorenes irgendwie wieder zu erwecken oder tatsächlich neue Ziele zu realisieren.

März 2013