Basisdemokratische Anstrengungen

- Hoffnungen, Fragen, Besorgnisse -

Auch überall in Europa flammen Proteste auf, bestimmen für die Machthabenden unerwartete Wellen basisdemokratischer Aktivitäten immer mehr die politische Szenerie. Über die Abgrenzungen der traditionellen politischen Strukturen hinweg eröffnen sich damit neue Horizonte zur schließlichen Überwindung überlebter Herrschaftsstrukturen. Viele Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang neu; wovon an dieser Stelle nur einige wenige kurz angerissen werden können:

1. Jahrzehntelang konnte der Realsozialismus der Sowjetunion und Osteuropas den Turbokapitalismus der westlichen Welt in wesentlichen weltpolitischen Fragen in seine Schranken verweisen. Ursprünglich 1917 aus der revolutionären Massenerhebung der Ärmsten und Ausgebeutetsten im zaristischen Russland hervorgegangen, haben die Arbeiter und Bauern in den ersten Jahren und Jahrzehnten der Existenz der Sowjetmacht wichtige Erfahrungen mit dem sowjetischen Rätesystem gesammelt. Und auch in Osteuropa wurde nach dem II. Weltkrieg versucht, auf dem Wege der Errichtung einer volksdemokratischen Ordnung bürgernahe Organisationsformen für den Übergang in eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen.

Vor zwei Jahrzehnten ist aber der – insgesamt ja immerhin 80 Jahre währende – Sozialismus-Versuch in der Sowjetunion und in Osteuropa historisch erst einmal gescheitert. Womit die bis dahin real existierende Gegenmacht zur Kapitalordnung und auch das Hinterland für die nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt weggefallen sind. Seitdem kann der Turbo-Kapitalismus des Westens überall in der Welt und eben auch in Europa wieder immer mehr schalten und walten, wie es ihm beliebt. In vielen Ländern verschärft sich die Kluft zwischen den Ärmsten und den Reichsten; die Krisen nehmen zu und insgesamt vollzieht sich ein gefährlicher Rechtsruck.
Zugleich wachsen überall Unzufriedenheit und Empörung immer größer werdender Teile der Bevölkerung über Kriegführung, Korruption, Repressionen und Ausgrenzungen. Viele engagierte Menschen suchen nach Möglichkeiten, mit basisdemokratischen Aktivitäten aus den seit den 1989/90er Jahren wieder neu weltweit in Gang gesetzten ursprünglichen Teufelskreisen der Kapitalgesellschaft (Ausbeutung, Gewalt und Krieg) herauszukommen.

Basisdemokratische Aktivitäten – das sind Anstrengungen der durch die jeweils herrschenden Machtstrukturen sozial, ökonomisch und politisch in besonderem Maße Ausgegrenzten und Benachteiligten zur Abänderung der entstandenen Lage. Das sind ganz wesentliche, über die Grenzen sog. bürgerlich-parlamentarischer Demokratie hinausgehende Äußerungen ursprünglicher, ungebändigter unmittelbarer Demokratie, deren Bedeutung angesichts des voranschreitenden Versagens traditioneller Institutionen und Organisationsstrukturen der Kapitalordnung zunehmend wächst.

In besonderem Maße Ausgegrenzte und Machtlose bringen in Bürgerinitiativen, mit Demonstrationen und vielfältigen anderen Mitteln ihre Interessen und Forderungen zum Ausdruck. Die traditionellen Parteigrenzen überschreitend nutzen Bürger und einzelne Gruppen der Bevölkerung verfassungsmäßig zugestandene Rechte – Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit – sowie z. B. immer mehr auch das Internet, um ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen. Sie suchen nach Alternativen, wie Schritt für Schritt handlungsfähige Mehrheiten für das Erreichen neuer politischer Machtverhältnisse gewonnen werden können. Im „friedliche Aufstand“ (Stephane Hessel) üben sie erheblichen Druck auf die politischen Entscheidungsträger aus.

Beispiel: Spanien, speziell Barcelona.
Warum gerade Barcelona?
Seinerzeit hatte bereits Thomas Mann im „Zauberberg“ geschrieben, dass diese Stadt sich „besonderer Beziehungen zur politischen Fortschrittsidee rühmen darf“ – was ja in den 1930er Jahren und in den nachfolgenden Jahrzehnten bis heute vielfach bestätigt worden ist.
Auf die deutsche Problematik bezogen sei hier rückblickend nur beispielhaft erwähnt: Nachdem die basisdemokratischen Anstrengungen der Grünen-Gründer in Westdeutschland in den 1970er Jahren zerschlagen worden waren, führte u. a. auch der politische Weg von Petra Kelly nicht von ungefähr nach Katalonien, nach Barcelona. Dort fand sie Gleichgesinnte. Dort ist ihr politisches Erbe noch heute präsent. Dort ist nicht nur an herausgehobenem Ort der „Jardi de Petra Kelly“, der an das basisdemokratische Erbe der 68er erinnert.
In Barcelona protestieren heute tausende ausgegrenzte und benachteiligte Jugendliche in den Protestcamps auf dem Pl. de Catalunya gegen die Privilegien der politischen Klasse, gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Nicht bereit, sich mit ihrem Schicksal als „verlorene Generation“ abzufinden, suchen sie mit aufrüttelnden basisdemokratischen Aktionen nach Auswegen. Und offensichtlich finden die jugendlichen Akteure auch immer mehr Resonanz in anderen Kreisen der Bevölkerung.
Derzeit ist noch nicht abzusehen, ob dieser „Druck der Straße“, ob und wann dieser vor allem von den Jugendlichen getragene, friedliche basisdemokratische Widerstand hier und andernorts zu tatsächlich wirksamen Veränderungen geführt werden kann. Aber die am meisten Ausgegrenzten und Benachteiligten setzen mit ihrer Empörung und ihrem Aufbegehren unübersehbare Zeichen, die früher oder später die verkrusteten politischen Strukturen des Turbokapitalismus in Frage stellen können.

2. Zurück nach Deutschland: Auch hier gibt es aktuell immer mehr Proteste gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, gegen zunehmende Gegensätze zwischen Arm und Reich, gegen Kernkraftwerke und Castor-Transporte, gegen Mammut-Konzern-Projekte (Stuttgart 21), Rechtsextremismus usw. In mancherlei Hinsicht kommen da Erinnerungen auf an das Aufbegehren der 68er, an die Proteste gegen den Vietnamkrieg, an die Ostermärsche seinerzeit. Aber demgegenüber bleibt hierzulande heute vieles Einzelaktion von getrennt agierenden Gruppen ohne klare Zielrichtung. Und es fällt auf, dass sich hier und heute nicht immer die durch die Machenschaften des Turbokapitals am meisten Betroffenen und am meisten Benachteiligten öffentlich besonders lautstark zu Worte melden. Man kann sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, dass gegenwärtig in Deutschland verschiedene Initiativen und Aktionsgruppen vor allem versuchen, ihre exklusiven Partikularinteressen in lokaler bzw. personaler Selbstbezogenheit zur Geltung zu bringen, zuweilen sogar auf Kosten und zu Lasten anderer Gruppen, speziell der Schwächsten der Gesellschaft!

3. Weiter, wenn es um Erfahrungen mit basisdemokratischer Relevanz auf deutschem Boden geht, muss – neben, wie gesagt, vor allem den Traditionen der 68er Bewegung im Westen Deutschlands – der Blick wohl außerdem auch nach Osten, in die DDR gerichtet werden. Wesentlich war dort zum einen, dass der Neubeginn nach dem II. Weltkrieg weitgehend getragen war von der Aufbruchstimmung, von der Masseninitiative und Mitbestimmung großer Teile der werktätigen Bevölkerung. Aber auch im Osten, beim Versuch eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, hat es dann zum anderen im Laufe der Zeit in verschiedenen Gruppen der Bevölkerung von der Basis her immer wieder auch Unzufriedenheit über bestimmte Entwicklungen gegeben – wegen des Zurückbleibens der ökonomisch-technischen Entwicklung, wegen übermäßiger Maßregelung, fehlenden Reisemöglichkeiten u. a.
Und es gibt hier auch bestimmte Zusammenhänge zur sog. „Abstimmung mit den Füßen“, zum leidigen Abwanderungsproblem aus Ostdeutschland. In den 40 Jahren Existenz der DDR sind – z. T. nach rigoroser Abwerbung von Westdeutschland – aus Unzufriedenheit und Frust über Zurückbleiben und Begrenzungen im realsozialistischen Staat Jahr für Jahr Zehntausende aus unterschiedlichen sozialen Schichten nach Westen abgewandert. Dort haben sie – um nur das eine hier zu erwähnen – ganz erheblich zum wirtschaftlichen und kulturellen Wachstum beigetragen. Aber die, die da aus der DDR abgehauen oder manchmal ja eben auch regelrecht weggegrault worden sind, haben beim sozialistischen Aufbau gefehlt. Das waren ja eben nicht nur – wie manch einer sogar noch heute behaupten will – Asoziale und Kriminelle.

4. Zu den DDR-bezogenen Erfahrungen mit basisdemokratischer Relevanz gehört dann weiter vor allem, dass Ende der 1980er Jahre, als die DDR-Oberen dem Druck aus dem Westen nichts mehr entgegen zu setzen hatten, Zehntausende auf den Straßen Ostdeutschlands unter den Losungen: „Wir sind das Volk!“, „Wir bleiben hier!“, „Wir wollen hier etwas ändern!“ für einen besseren, demokratischeren Sozialismus demonstriert haben. Engagierte Leute, die bis dahin unter oft komplizierten Bedingungen ihre ganze Kraft für den Aufbau einer neuen Gesellschaft eingesetzt hatten, wollten nicht zulassen, dass dieser ihr Staat einfach den Bach runtergeht. Die Demonstranten für einen besseren Sozialismus, das waren doch nicht irgendwelche „Pflastertreter“, wie zuweilen zu lesen ist. Vielmehr haben diese Leute dagegen aufbegehrt, dass die ehemaligen DDR-Arbeiterführer und deren Apparate sich immer weiter von dem entfernt haben, was sie vorher propagiert hatten, und was die einfachen Leute tatsächlich bewegt hat. ...
Aber, jeder weiß, wie das am Ende ausgegangen ist. Die „Abstimmung mit den Füßen“ – dann später unter der Losung „Wir sind ein Volk!“ – hatte schließlich maßgeblich Anteil daran, dass der ostdeutsche Sozialismus-Versuch insgesamt gescheitert, die DDR als Staat untergegangen ist. Dass die DDR – aus ostdeutscher Sicht betrachtet, weitgehend konzeptionslos zum Nachteil für die Bevölkerungsmehrheit Ostdeutschlands – Knall und Fall der Bundesrepublik „beigetreten“ ist. Damals sind die Weichen gestellt worden zur Arbeits- und Perspektivlosigkeit Zehntausender, zu Konkurrenzkampf und sozialer Ausgrenzung heute.

Das Nichtbeachten der Stimmung der Menschen an der Basis, der Ansichten und Interessen beachtlicher Teile der Bevölkerung – das war nachweislich einer der Hauptfehler der seinerzeitigen DDR-Führungselite sowie auch derjenigen, die dann auf diese, große Teile der einfachen DDR-Bevölkerung benachteiligenden Weise den Beitritt zur Bundesrepublik vollzogen haben. Die Geschichte lehrt unerbittlich: Es geht nicht auf, Andersdenkende, die ihre Interessen und Ansichten auf den Straßen zur Geltung bringen, zu diffamieren, auszugrenzen, bzw. einfach ignorieren zu wollen. Das gilt für damals, und das gilt eben auch heute.

5. Demos gegen Bombodrom, gegen Atommüll-Transporte und Rechtsextremisten – das sind heute eindrucksvolle Beispiele engagierter unmittelbarer demokratischer Willensbekundung.
Heute, nachdem vor 20 Jahren der Realsozialismus gescheitert ist, protestieren unter anderem auch in ostdeutschen Städten engagierte Leute gegen Kriegführung und soziale Ausgrenzungen durch den Turbokapitalismus unter schwarz/gelber Führung. Teilnehmer dieser Veranstaltungen sind vor allem ältere Menschen, die ihre Erfahrungen im DDR-Realsozialismus gesammelt haben. Es gehen dabei heute auch Leute auf die Straße und prangern – natürlich aus gutem Grund und zurecht – die bundesrepublikanische Ordnung an, die zu denen gehört haben, denen es zu DDR-Zeiten nicht schlecht ging. Denen es aber eben auch trotz aller Bemühungen damals nicht gelungen ist, den Real-Sozialismus für die ganze Bevölkerung besser und effektiver zu machen, bzw. auch nur überhaupt zu bewahren. Obwohl auch sie damals die vom Volk mit großen Anstrengungen geschaffenen real-sozialistischen Errungenschaften nicht erhalten konnten, verweisen manche heute als „Ausweg“ aus der nunmehr entstandenen, für viele unbefriedigenden Situation … auf den DDR-Sozialismus. Der ist ja aber, so wie er nun einmal beschaffen war, damals gescheitert, hat sich nicht als überlebensfähig erwiesen – und das ja eben auch, weil viele ganz normale Leute einfach nicht mehr mitmachen wollten.
Für die Angehörigen der nachwachsenden Generation, die heute und künftig am meisten davon betroffen sind, dass der Turbokapitalismus wieder ungebremst herrscht, sind undifferenzierte DDR-sozialistisch-nostalgische Reden mancher Älteren leider wenig hilfreich. Sie, unsere Kinder und Enkel, müssen heute unter völlig veränderten Bedingungen nach beruflichen und Lebens-Perspektiven, nach n e u e n Lösungen für Auswege aus der Rechtsentwicklung in Deutschland suchen.

6. Auch ansonsten hat so manche aktuelle linke politische Aktion hierzulande kaum tatsächlich basisdemokratische Relevanz oder Dimension. Läuft doch so manche linke Veranstaltung darauf hinaus, dass Polit-Profis von einer Tribüne oder auch vom „roten Sofa“ aus mit drastischen Worten Kriegführung, soziale Ausgrenzung oder zunehmende Gegensätze zwischen Arm und Reich anprangern – wie z. B. auch jüngst auf dem gelungenen Fest der Linken/ND-Pressefest in der Kulturbrauerei in Berlin.
So weit – so gut.
Aber da treten in der Regel Akteure auf, die als Angehörige einer – von den Machtbesitzern ja letztlich weithin geduldeten – Opposition ins gegebene politische System integriert sind. Und … unten spenden diszipliniert wohlmeinende, meist ältere sozialistisch eingestellte Zuhörer Applaus. Bei diesen Zuhörern – und das ist die andere Seite des Problems – handelt es sich in der Regel nicht um die am meisten vom Turbokapital Ausgegrenzten und Benachteiligten, sondern um zumindest für ihren eigenen Lebensabend doch relativ abgesicherte Pensionäre. Denen es zum Beispiel – glücklicherweise – sehr wohl möglich ist, im krassen Unterschied zu sehr sehr vielen arbeits- und perspektivlosen jungen Menschen vor allem in Ostdeutschland, die meisten Errungenschaften und „Segnungen“ der westlichen Konsumgesellschaft recht ausgiebig zu nutzen. Die Situation und die Interessen solcher Veranstaltungsteilnehmer geben also kaum Anlass für ernsthafte basisdemokratische Aktionen, die etwa das gegebene Regime zu irgendwelchen grundlegenden Änderungen zwingen könnten. 
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Aber, was ist die höchst bedrohliche Kehrseite dieser hierzulande gegebenen Situation, an der die herkömmlichen linken Talk-Show-Reden leider wenig ändern:
Immer mehr brennende Autos auf den Straßen, brennende Kinderwagen in Hausfluren, Angriffe gegen Ausländer, zerschlagene Scheiben von Banken und Reichen-Quartieren, usw.
Die von den Machenschaften der Turbo-Kapital-Ordnung am meisten Ausgegrenzten und Benachteiligten der „verlorenen Generation“ fühlen sich verraten und sehen keine andere Möglichkeit als derartige Gewaltexzesse, um auf ihre oft verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Und dabei wäre es natürlich abwegig, solcherart „Aktionen“ mit sachdienlichen und ernsthaften basis-demokratischen Bestrebungen in Verbindung zu bringen.
Die sog. Normalbürger schimpfen solche Brandstifter „Chaoten“, mit denen sie ja nichts zu tun haben wollen. Die Machtbesitzer behaupten, das seien Gewaltakte „linker Autonomer“ und … nutzen diese als willkommene Vorwände für verschärften Gewalteinsatz, für weitere Restriktionen gegen „Linke“ und andere Bürgerinitiativen – zum Nachteil für die Schwächsten und der Mehrheit der Bevölkerung sowie auf Kosten demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse.
In diesem Kontext wächst – und da liegt das Problem – die Gefahr, dass in Deutschland erneut Neofaschisten Schritt für Schritt immer mehr an Gehör und Oberwasser gewinnen. Es wächst die Gefahr, dass Neonazis Schritt für Schritt außer Kontrolle geratende Zustände nutzen, um Mehrheiten für die Durchsetzung ihrer antidemokratischen „Ordnungs“-Vorstellungen zu gewinnen.

Diesen ganz real drohenden neofaschistischen Gefahren kann nur wirksam begegnet werden, indem alle politischen Kräfte, die gegen die Zunahme sozialer Ausgrenzungen und Benachteiligungen, gegen Expansion und Gewalt sind, entschieden vereint und gemeinsam den Rechtskonservativen Paroli bieten. So weit wie nur irgend möglich müssen auch alle zur Verfügung stehenden außerparlamentarischen Mittel und Möglichkeiten genutzt werden zur radikalen Kritik und zum Zurückdrängen des voranschreitenden Rechtskurses. Angesichts des Versagens traditioneller demokratischer Institutionen und Parteistrukturen kann der Druck auf die politischen Entscheidungsstrukturen nur erhöht werden durch noch viel mehr breites generationsübergreifendes basisdemokratisches Engagement, d. h. um mehr ursprüngliche unmittelbare, direkte Demokratie.

Gerwin Udke
Juni 2011